Es scheint irgendwie Paradox: Die meisten wünschen sich entspannte und wertschätzende Beziehungen zu ihren Mitmenschen – sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext. Dennoch sind wir täglich mit den kleinen und großen Konflikten und Missverständnissen des Alltags mit unseren Kolleg:innen, Partner:innen und Kindern, oder mit Nachbar:innen, Freund:innen oder Vorgesetzen konfrontiert. Da erleben wir unvereinbare Interessenskonflikte oder immer wiederkehrenden Streitigkeiten und obwohl alle wissen, dass es das Miteinander nicht weiterbringt, machen wir offen oder im Stillen Vorwürfe, geben dem anderen oder uns selbst die Schuld, greifen an, verurteilen und kritisieren. Diese Auseinandersetzungen können emotional sehr belastend und kräfteraubend sein, besonders, wenn sie sich nicht lösen lassen.
Die Gewaltfreie Kommunikation, GfK (engl. Nonviolent Communication, NVC) ist eine prozessorientierte Kommunikationsmethode und Lebenshaltung, die die Frage adressiert, wie wir ganz grundlegend menschliche Beziehungen – sowohl im privaten als auch beruflichen Kontext – wertschätzend gestalten wollen und können.
Unter „Gewalt“ wird im Sinne von Dr. Marshall B. Rosenberg – dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation – nicht nur, wie der Begriff vielleicht vermuten lässt, körperliche Gewalt verstanden. Der Begriff meint u. a. auch verbale Gewalt in Form von Vorwürfen, Angriff, Urteilen, Diagnosen und Bewertungen, die wir anderen oder uns gegenüber haben.
Die Gewaltfreie Kommunikation nimmt Abstand vom klassischen Täter-Opfer-Denken und fokussiert statt auf moralistische Bewertungen, Urteile und Interpretationen, auf unsere Gefühle und Bedürfnisse. Im Mittelpunkt des Modells steht das gegenseitige empathische Verstehen – ohne dabei mit allem, was mein Gegenüber sagt oder tut, „einverstanden“ sein zu müssen. Damit bietet die Gewaltfreie Kommunikation ein wertvolles „Werkzeug“ für einen wertschätzenden, authentischen und empathischen Umgang mit uns selbst und mit anderen.
Eine Grundannahme der GfK ist, dass alle Menschen eine Reihe von Bedürfnissen (Schlaf, Anerkennung, Wertschätzung, Respekt, Autonomie, Sicherheit, Klarheit usw.) teilen. Nach dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation entstehen Konflikte nicht auf dieser Bedürfnisebene, sondern auf der Ebene der Strategien, derer sich Menschen bedienen, um sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Werden die Bedürfnisse aller Beteiligten erst einmal offengelegt und klar formuliert, entstehen oft völlig neue Möglichkeiten für die Lösung von (verhärteten) Konflikten und emotional belastenden Situationen und das gegenseitige Verstehen.
Anwendungsgebiete der GfK
Die GfK kann in allen Lebensbereichen Anwendung finden, in denen emotional belastende Situationen das Miteinander erschweren:
- Berufsleben: Spannungen und Konflikte zwischen Kollegen:innen und zwischen Hierarchien, die bspw. gemeinsame Projekte gefährden und Kooperation einschränken oder zu Motivationsverlust führen können
- Privatleben: Familie, Partnerschaft, Freundschaft
- Innere Konflikte: Entscheidungen
Die Gewaltfreie Kommunikation ist nicht nur ein Weg, um konstruktiver mit Problemen und Konflikten umzugehen, sondern bietet auch die Möglichkeit, um bspw. Wertschätzung und Feedback auf eine kraftvollere und lebensförderlichere Art und Weise auszudrücken.
Die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation
Methodisch gesehen, besteht die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) aus vier Schritten, die in verschiedene Richtungen und in verschiedenen Kommunikationsanlässen angewendet werden: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte.
Dieser Vierschritt des Modells erscheint zunächst etwas „sperrig“ oder „starr“. Er ist bei genauerer Betrachtung aber vielmehr als eine reine Kommunikationstechnik, die mechanisch angewendet wird. Sie dient vielmehr als Geländer, an dem man sich situations- und personenbezogen entlang hangeln kann. Für mich ist der Vierschritt vor allem ein mächtiges Tool für die Selbstklärung.
1. Beobachtung
Beim ersten Schritt geht es darum wahrzunehmen, was konkret passiert (ist): Was hat bspw. jemand konkret gesagt oder getan, worauf ich mich beziehen möchte? Die Beobachtung ist dabei frei von moralistischen Bewertungen, Interpretationen oder (Selbst-)Urteilen.
2. Gefühl
Im zweiten Schritt wird ausgedrückt, welche Gefühle die Beobachtung bei einem selbst oder bei einer anderen Person ausgelöst hat: Wie fühle ich mich angesichts meiner Beobachtung? Die Gefühle sind dabei frei von Schuldzuweisungen – ganz nach dem Motto „Gefühle haben keinen Täter“.
3. Bedürfnis
Anschließend wird das Bedürfnis benannt, das angesichts der Beobachtung (un)erfüllte ist. Indem man sowohl bei dem Gefühl, als auch bei dem Bedürfnis von sich spricht und bei sich bleibt, übernimmt man Verantwortung für sich und seine Reaktion.
4. Bitte
Abschließend wird nach einer Bitte gesucht, die man an sich oder andere richten kann, um das benannte Bedürfnis zu erfüllen. Dabei ist zu beachten, dass eine Bitte keine Forderung ist.
Begründer der Gewaltfreien Kommunikation: Dr. Marshall B. Rosenberg
Der US-Amerikaner Marshall B. Rosenberg (1934–2015) war der Begründer der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation, in die u. a. Arbeiten von Gandhi (Gewaltlosigkeit) und Carl Rogers (Klientenzentrierte Gesprächsführung) einflossen. Er entwickelte diese in den 1960er Jahren und war in über 60 Ländern als Mediator und Trainer tätig. Rosenberg promovierte 1961 im Bereich Klinische Psychologie an der University of Wisconsin–Madison. 1984 gründete er die gemeinnützige Organisation The Center for Nonviolent Communication, CNVC (vgl. Wikipedia).